Hieracium L. – Habichtskraut i. e. S. (Hieracium subgen. Hieracium, ohne Pilosella)

Hieracium s. str. gehört zu den formenreichsten Gattungen des Pflanzenreiches. Dies steht offenbar im Zusammenhang mit apomiktischer Samenbildung, die bei Hieracium s. str. seit langem bekannt ist (Murbeck 1904, Ostenfeld & Raunkiær 1903, Ostenfeld 1904 & 1906). Der Typ der Apomixis ist autonome Diplosporie: der Embryosack entwickelt sich aus dem eigentlichen sporenbildenden Gewebe, dem Archespor. Für die Entwicklung des Endosperms ist keine Befruchtung notwendig.

In Deutschland kommen nur zwei sexuelle, stets diploide Sippen vor: H. intybaceum (Schlaginweitia intybaceum) und H. umbellatum. Obwohl die morphologische Variabilität (Zahn 1921–1923 & 1922–1938), insbesondere das Vorkommen von „Zwischenarten“ – sie kombinieren Merkmale von „Hauptarten“ – intensive Hybridisierung vermuten lässt, ist gelegentliche Sexualität bei apomiktischen Hieracien in Deutschland bisher nicht nachgewiesen. Hybridisierungen sind auch durch die vor der Blütenöffnung stattfindende Embryosackentwicklung sehr unwahrscheinlich (Nogler 1984). Außerhalb Deutschlands sind Hybriden zwischen diploiden Arten (Merxmüller 1975, Mráz & al. 2005) und zwischen pollenproduzierenden polyploiden und diploiden bekannt. Für die Entstehung der überwältigenden Formenvielfalt polyploider Hieracien vermuten Fehrer & al. (2009) eine größere Zahl heute ausgestorbener diploider Arten. Von Hand & al. (2015) wurde kürzlich bei mehreren tri- oder tetraploiden Arten bei maximal wenigen Prozent der Megasporenmutterzellen die meiotische Bildung von Megasporen-Tetraden nachgewiesen. Ob sich diese zu befruchtungsfähigen Embryonen entwickeln können ist jedoch unbekannt.

Die Gattung ist außerordentlich artenreich. Für Europa veranschlagt Gottschlich (1996) 10.000 bis 15.000 Sippen. Die kaum überblickbare Formenvielfalt hat in Mitteleuropa zu einer unkonventionellen, hauptsächlich von Zahn (1906, 1921–1923 & 1922–1938) ausgearbeiteten Lösung geführt. Es wurden Hauptarten festgelegt, die sich durch eigenständige Merkmale und großräumige Areale auszeichnen. Zwischenarten sind Bindeglieder zwischen einer oder mehreren Hauptarten ohne eigenständige Merkmale. Diese Beziehungen werden in Formeln angegeben, die die Stellung der Zwischenart kennzeichnen (z. B. H. porrectum: bifidum < valdepilosum oder H. rapunculoides: lachenaliiprenanthoides). Alle weiteren, nur durch subtile morphologische Merkmale abzugrenzenden Sippen werden den Haupt- und Zwischenarten als infraspezifische Sippen – Unterarten, Varietäten, Subvarietäten, Formen oder Subformen – zugeordnet. Nach diesem System, dessen Artebene im Rothmaler (Bräutigam 2011, 2021) verwendet wird, kommen in Deutschland etwa 90-100 Arten vor. Außerhalb von Deutschland wird das Zahn’sche System zunehmend weniger verwendet und wie auch in anderen apomiktischen Gruppen wird nur noch der Artstatus verwendet. Als Faustregel kann gelten, dass bei Hieracium „die Unterarten die Arten sind“. Bei Anwendung der in anderen apomiktischen Gruppen gebräuchlichen Kriterien für die Artabgrenzung können wir bei Hieracium mit über tausend Arten in Deutschland rechnen. In seiner Synopse der für Deutschland nachgewiesenen Sippen listet Gottschlich (2020) bereits 101 Kollektivarten (Haupt- und Zwischenarten, s.u.) mit 849 Unterarten Mittlerweile beginnt sich auch das Kleinartenkonzept bei Hieracium durchzusetzen, beispielsweise beschrieb Müller (2004) auf dieser Grundlage neue Sippen aus der Umgebung von Jena. Die Bereinigung der Zahn’schen „Subtiltaxonomie“ und die „Herausschälung morphologisch, geographisch und standörtlich fassbarer Sippen“ ist für Gottschlich (1996) ein Wunschprogramm, für dessen Realisierung derzeit in Mitteleuropa kaum „Mittel in Sicht“ sind. Insbesondere die „hochpolymorphen“ Arten wie H. bifidum, H. murorum, H. lachenalii und H. laevigatum werden sich bei Anwendung des Kleinartenkonzeptes in eine Vielzahl von Sippen aufteilen lassen.

Die bereits von Schultz & Schultz (1862) propagierte Trennung von Hieracium und Pilosella setzt sich zunehmend durch, obwohl es nach wie vor Gegenstimmen gibt. Aus der Gattung Hieracium wird nach molekulargenetischen Untersuchungen (Fehrer & al. 2007 & 2009) Schlaginweitia mit S. huteri und S. intybacea abgetrennt, was von Bräutigam (2011, 2021) noch nicht vollzogen wurde.

Die Mehrzahl der deutschen Hieracium-Arten besiedelt Felsbiotopen in den Alpen und in den Mittelgebirgen. Viele Arten finden aber auch geeignete Lebensräume in Waldsäumen und lichten Wäldern. Grünland und Ruderalstellen werden eher gemieden.

Hieracium ist außerordentlich weit auf der Nordhalbkugel verbreitet. Das Areal erstreckt sich über Mittelamerika auch auf Südamerika. Die höchsten Artenzahlen finden sich in Gebirgen (Alpen, Balkan, Karpaten, Pyrenäen).

Alle Arten bilden Stauden mit aufrechter, meist verzweigter Sprossachse. Eine Grundblattrosette ist bei den meisten Arten vorhanden. Stängelblätter sind bei den Arten mit Grundblattrosette meist nur in geringer Zahl vorhanden, bei Arten ohne Grundblattrosette sind sie meist zahlreich vorhanden. Die Blattspreite ist stets einfach und oft von lanzettlicher Form, wobei es aber mannigfaltige Abwandlungen gibt. Die Blüten sind zu einem Köpfchen zusammengefasst, das von Hüllblättern umgeben ist. Die Korbstände sind meist gabelig verzweigt. Die Hüllblätter sind dachig bis fast zweireihig angeordnet. Spreublätter (Tragblätter der Einzelblüten) fehlen. Aber die Gruben, in den die Blüten, später die Früchte, stehen, besitzen am Rand in der Regel zahnförmige Schuppen. Die Zungenblüten sind ausnahmslos gelb. Die Griffelfarben variieren von gelb über grün bis meist schwärzlich. Die Achänen sind zylindrisch und in der Regel schwarzbraun. Der Pappus ist gezähnt und schmutzig-weiß bis hellbraun.

Moderne Bestimmungsschlüssel, die die gesamte Formenvielfalt der Gattung Hieracium abbilden, sind nicht vorhanden. Das Bestimmen der „Haupt- und Zwischenarten“ ist mit den von Bräutigam (2011, 2021, Deutschland), Gottschlich (1996, Baden-Württemberg; 2008, Österreich) oder Schuhwerk & Lippert (1991, Bayerischer Wald) erarbeiteten Schlüsseln möglich.

Um die Variabilität abschätzten zu können, sollten stets 3–5 gut entwickelte Pflanzen gesammelt werden. Auf das Vorkommen (und das Sammeln) von Grundblättern ist zu achten. Griffelfarbe und Blattfärbung, die sich beim Trocknen ändern, sollten im Gelände notiert werden. Pflanzen mit Nachtrieben oder Nachblüten sind für die Bestimmung ungeeignet.

Bei Arten ohne Grundblattrosette wird ein Beblätterungsindex verwandt, der sich aus der Zahl der Stängelblätter geteilt durch die Höhe der Pflanze in cm errechnet.

Bei der Bestimmung ist eine starke Lupe oder besser ein Binokular notwendig, um die Mengenverhältnisse der verschiedenen Haartypen sicher erkennen zu können.

Im Portal berücksichtigt wurden alle in der 22. Auflage der Rothmaler-Exkursionsflora von Bräutigam (2021) verschlüsselten und erwähnten Taxa sowie Hieracium entleutneri. Von Bräutigam (2021) bei anderen Arten inkludierte Sippen werden soweit wie möglich getrennt behandelt, sind im taxonomischen Baum aber der entsprechenden Art aus der Rothmaler-Bearbeitung zugeordnet. Bislang konnten noch nicht zu allen im Portal behandelten Taxa sicher bestimmte Belege ausfindig gemacht werden. Bei den zur Verfügung gestellten Digitalisaten wurde auf eine möglichst große Zahl der jeweils in Deutschland vorkommenden Unterarten geachtet. Bei vielen Arten konnte aber nur ein kleiner Teil der in Deutschland vorkommenden Sippen und ihrer Formenvielfalt berücksichtig werden.

Unser Dank gilt Günter Gottschlich (Tübingen) für die Bereitstellung einer größeren Zahl von Belegen und die Überprüfung kritischer Belege. Die Bayerische Staatssammlung stellte einen großen Teil der Belege zur Verfügung, weitere Belege erhielten wir aus Münster (MSTR) und Wien (W).

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